Blutige Nächte der Entscheidung

Während in den französischen Vorstädten blutige Kämpfe toben, die schon mehrere hundert Todesopfer gefordert haben, verhandelt die rechtsextreme Partei Bloc Patriotique, kurz: der Block, über eine Regierungsbeteiligung. Eine Nacht der Entscheidung, die aus zwei Perspektiven geschildert wird: Für die geforderten zehn Ministerposten muss sich der Block von Stanko, dem Chef seines paramilitärischen Sicherheitsdienstes, trennen, sprich: ihn töten. Während Stanko auf der Flucht vor den Männern ist, die er selbst ausgebildet hat – geschildert aus der Ich-Perspektive –, wartet am anderen Ende der Stadt Antoine, der Ehemann der Parteichefin und ein guter Freund Stankos, auf das Ergebnis der Verhandlungen und der Menschenjagd – erzählt in der ungewöhnlichen Ansprache eines »Du«.

Jérôme Leroys Roman »Der Block« spielt eindeutig auf den französischen Front National an, ist aber alles andere als ein Schlüsselroman. Die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten ist sehr viel grundsätzlicher und exemplarischer angelegt. Es gibt zwar deutliche Überschneidungen zwischen den Fakten und der Fiktion, die bis in die Äußerungen der Romanfiguren hineinreichen, doch ist der Roman zeitloser und archetypischer gefasst, sodass er auch auf das rechtsextreme Lager anderer Länder wie beispielsweise Deutschland übertragen werden kann.

Leroy schildert ohne Ironie oder Überheblichkeit, ohne moralischen Zeigefinger das in sich geschlossene Weltbild der extremen Rechten mit seinen inhärenten Widersprüchen, die internen Manipulationen und Machtkämpfe, die komplexen Beziehungen von Organisationen der rechten Szene untereinander und lässt auch die Faszination der Gewalt spürbar werden, die beide Protagonisten prägt. Die Nähe zu den Figuren, die durch die gewählten Erzählperspektiven und den differenzierten Blick auf ihre Motive entsteht, ist beim Lesen unheimlich und verstörend – und nicht minder faszinierend. Ein großer und wichtiger Roman, nicht nur angesichts der europaweit erstarkenden neuen Rechten und den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich.

Dunkle Abgründe

»Das, was Ich glaubte zu sein, aber nie gewesen war, verging.« Die Welt einer jungen Frau, deren Name nicht genannt wird, zerbricht, und in ihr wächst ein Plan: zur Mörderin zu werden. Diesen Plan führt sie durch, methodisch, konsequent, sehr bewusst, ohne Mitleid, weder für sich selbst noch für ihre Opfer.

Warum sich diese Frau dafür entscheidet, erzählt Marina Heib in ihrem Krimi »Drei Meter unter Null«. Aus der Ich-Perspektive schildert die Namenlose, wie sie ihre Opfer aufspürt, beobachtet und tötet – und in Rückblenden berichtet sie, was geschehen ist, dass aus einer erfolgreichen Soft- wareexpertin eine Wölfin wurde.

Die Geschichte an sich ist nicht wirklich neu, doch ungewöhnlich und verstörend ist, was Marina Heib daraus macht und wie sie sie erzählt: Ihre Protagonistin ist kein Opfer, kein Fräulein in Not, das mit einer gefährlichen Situation konfrontiert wird. Diese Frau entscheidet sich bewusst dafür, die Grenze zu überschreiten und zum Tier zu werden. Sie stellt ihre Entscheidung nicht infrage, zweifelt nie am Sinn ihrer Morde – was sie jedoch bewegt, ist die Frage, was das Morden aus ihr als Mensch macht. Marina Heibs »Drei Meter unter Null« ist ein Abstieg in menschliche Abgründe. Sprachlich knapp, klar und reduziert, nie beim Leser um Verständnis buhlend, schildert Heib ungeschönt die Konsequenzen von Gewalt und was Gewalt mit Menschen macht: mit Tätern wie mit Opfern.

Zwischen den Mafia-Fronten

Auch Crissa Stone, die Protagonistin der Kriminalromane von Wallace Stroby, hat sich bewusst für ihren Weg entschieden: Mit »Geld ist nicht genug« legt Stroby den zweiten Band um seine Berufsverbrecherin vor. Crissa Stone ist Profi, präzise, effizient, unsentimental, spezialisiert auf Überfälle; sie schreckt auch nicht davor zurück, zu töten, wenn es unbedingt sein muss. Und mitunter ist es unausweichlich. So auch diesmal: Um an das gut versteckte Geld eines Mafia-Bosses aus einem lange zurückliegenden Überfall zu kommen, gerät Crissa mit einem äußerst unangenehmen Gangster aneinander, einem skrupellosen Überbleibsel aus alten Mafia-Zeiten – einem sehr viel gefährlicheren Gegner als die Polizei.

Wallace Strobys Roman greift einen alten Fall auf, der in seinen Konsequenzen Bücher wie auch Filme – unter anderem Martin Scorseses »GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia« –inspiriert hat: den Überfall auf den Frachtterminal der Deutschen Lufthansa am New Yorker Flughafen JFK im Jahr 1978. Damals wurden Geld und Juwelen im Wert von mehreren Millionen US-Dollar gestohlen, nach heutigem Wert rund 20 Millionen Euro; bis heute ist der größte Teil der Beute unauffindbar. Es war der größte Bankraub der US-amerikanischen Geschichte, wie Übersetzer Alf Mayer im Nachwort darlegt.

Stroby erzählt klar und kraftvoll, seine Figur Crissa Stone überzeugt in ihrem selbstbewussten und professionellen Auftritt. Markige Sprüche überlässt sie anderen, ihr geht es um die effiziente Abwicklung eines Raubs. Dabei versucht sie, möglichst fair und anständig zu bleiben – kein einfacher Weg, der mitunter zusätzliche Probleme heraufbeschwört. Gerade dies im Zusammenspiel mit ihrem selbstsicheren Auftritt macht die Figur der Crissa Stone so besonders innerhalb der Kriminalliteratur.

Kirsten Reimers

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Jérôme Leroy: Der Block
(Le bloc, 2011)
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus 2017
kart., 319 Seiten, 19,90
ISBN 978-3-96054-037-3
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Marina Heib: Drei Meter unter Null
Heyne Encore 2017
geb., 249 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-453-27111-1
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Wallace Stroby: Geld ist nicht genug
(Kings of Midnight, 2012)
Aus dem Englischen von Alf Mayer
Pendragon 2017
kart., 334 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86532-577-8
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Vexierbild eines Mörders

In einem Dörfchen an der Nordwestküste Schottlands wird im Jahr 1869 ein Dreifachmord begangen. Täter ist der 17-jährige Roderick Macrae, der Sohn eines kleinen und gequälten Pächters. Roderick ist geständig, die Tat an sich ist eindeutig – es geht in Graeme Macrae Burnets Buch »Sein blutiges Projekt« nicht um das Wer oder Wie, sondern um das Warum, um die Hinter- gründe der Tat.

Dies wird in Form einer Studie beziehungs- weise eines Projekts aufgezogen. Graeme Macrae Burnet firmiert darum auch nicht als Autor des Buches, sondern als sein Herausgeber. Wie er im Vorwort erklärt, sei er bei einer Recherche nach eigenen Vorfahren zufällig auf diesen Fall gestoßen – nicht ohne Grund ist der Nachname des Täters mit dem Mittelnamen des Autors beziehungsweise Herausgebers identisch.

Das Buch besteht deshalb auch nicht aus einer chronologisch erzählten Geschichte, sondern aus einer Zusammenstellung von Dokumenten, gespickt mit erklärenden Fußnoten und Verweisen auf Primär- und Sekundärliteratur. Enthalten sind Aussagen der Nachbarn zu Roddy Macraes Charakter, ein umfangreiches Manuskript, das von Roddy selbst stammen soll – einschließlich der Zweifel, ob ein einfacher Bauernjunge tatsächlich einen so eloquenten Text verfassen kann –, Gutachten zu Roddys Geisteszustand wie auch eine Rekonstruktion des Gerichtsprozesses anhand von Zeitungsartikeln. Das mag etwas trocken klingen, ist aber ebenso hervorragend wie spannend geschrieben und konstruiert.

Graeme Macrae Burnet spielt mit der Frage, ob es sich tatsächlich um einen historischen Fall handelt, er spielt mit Authentizität und Gewissheit und hält es offen, ob Roddy zurechnungsfähig ist oder nicht, ob er an »moralischem Schwachsinn« leidet, wie es im Buch heißt, ob er also Recht und Unrecht nicht voneinander unterscheiden kann – oder ob er nicht doch berechnend und manipulativ agiert.

Klar ist jedoch: Jeder Zeuge, jeder Gutachter schildert den Charakter des Täters und die Motive des Verbrechens aus eigener Perspektive, mit je spezifischen Wahrnehmungsfiltern – und auch mit je eigenen Absichten. Das spiegelt sich ebenfalls im Manuskript wider, das Roddy verfasst haben soll: Manche Situation wird geschönt, manche Dinge werden ausgelassen.

Aus der Zusammensetzung der unterschiedlichen Aussagen entsteht so ein Mosaik der Tat und des Charakters des Täters – aber keines, das ein klares Bild ergeben würde. Je nach Perspektive kippt das Bild wie ein Vexierbild. Das ist sehr intelligent gemacht, sehr spannend und sehr literarisch – das Buch stand 2016 aus gutem Grund auf der Shortlist des renommierten Man-Booker-Preises.

Bleibt die Frage, ob es sich bei Burnets »Blutigem Projekt« tatsächlich um den Kriminalroman handelt, als der er vom Verlagsmarketing gehandelt wird. Legt man für Kriminalliteratur sehr enge Kriterien an oder erwartet bestimmte Muster, wird man vermutlich verwirrt zurückbleiben. Und doch zeigt Burnets »Projekt«, was im Genre Krimi stecken kann. So stehen ein Verbrechen und seine Aufklärung im Mittelpunkt, so geht es um die Suche nach der Wahrheit – und gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, ob es eine einzige Wahrheit überhaupt geben kann. »Sein blutiges Projekt« ist ein Spiel mit der Frage, wie Wirklichkeit konstruiert wird, und wie das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, im Diskurs entsteht.

Das verweist auf etwas Weiteres, mit dem Burnet spielt und auf das er sich bezieht: auf den »Fall Rivière«: Anfang des 19. Jahrhunderts tötete ein junger französischer Bauer drei Mitglieder seiner Familie und verfasste ein Memoire, in dem er seine Tat begründete. Das Verbrechen erlangte damals viel Aufsehen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nahm sich Michel Foucault des Verbrechens an und gab unter dem Titel »Der Fall Rivière« ein kommentiertes Dossier der Dokumente heraus, das den Fall unter dem Aspekt des Verhältnisses von Psychiatrie und Strafjustiz betrachtete. Burnets »Projekt« ist ein Kommentar und eine Aktualisierung des Foucaultschen Projekts.

Graeme Macrae Burnets »Blutiges Projekt« zeigt, wie vielfältig, wie unkonventionell und doppelbödig Kriminalliteratur sein kann, wenn man das Genre als Literatur und als Genre ernst nimmt. Schade ist einzig, dass der Autor in der Danksagung offenlegt, dass es sich beim Fall Roderick Macrae tatsächlich um eine Fiktion handelt, und damit eine der Ungewissheiten aufklärt.

Kirsten Reimers

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Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt. Der Fall Roderick Macrae
(His Bloody Project. Documents relating to the case of Roderick Macrae)
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Europa Verlag 2017
Broschur, 343 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-95890-055-4
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FaustKultur


Blutige Projekte und dunkle Intrigen

Im Jahr 1869 wird in einem Dörfchen an der schottischen Nordwestküste ein brutaler Dreifachmord begangen. Der Täter ist der 17-jährige Roderick Macrae, der Sohn eines kleinen, gequälten Pächters. Roderick ist geständig, Tat und Täter sind eindeutig – es bleibt die Frage nach dem Motiv: War es zum Schutz der Familie oder aus nie- deren Motiven?

Der Schotte Graeme Macrae Brunet legt mit »Sein blutiges Projekt« ein faszinierendes literarisches Puzzle vor, das nicht nur gut geschrieben, sondern auch spannend und geschickt konstruiert ist. Burnet spielt mit der Frage, was authentisch und was inszeniert, was Fiktion und was faktisch ist. Deshalb erzählt er nicht schlicht chronologisch eine Geschichte, sondern legt (fiktive) Dokumente vor, und überlässt es dem Leser und der Leserin, sich ein eigenes Bild zu machen.

Dieses facettenreiche Spiel um Konstruktion und Wirklichkeit schaffte es zu Recht auf die Shortlist des renommierten Man-Booker-Preises 2016. Ein ungewöhnlicher und intelligenter Roman, der die Möglichkeiten von Kriminalliteratur gekonnt auslotet.

Wuchtvolles Rachedrama

Mit »Nichts bleibt« legt der Romancier und Lyriker Willi Achten seinen ersten Kriminalroman vor: Der Kriegsfotograf Franz Mathys hat sich mit Vater und Sohn auf einen abgeschiedenen Hof zurückgezogen. Verfolgt von Erinnerungen an Kriegserlebnisse und gequält von

Schuldgefühlen kommt er jedoch auch hier nicht zur Ruhe. Als der Vater von zwei Männern lebensbedrohend zusammengeschlagen wird, gerät Mathys vollends aus dem Gleichgewicht. Gemeinsam mit einem Freund begibt er sich auf die Suche nach den Tätern. Lebte er zuvor schon am Rande der Gesellschaft, lässt er im Laufe dieser Suche die Zivilisation in mehrfacher Hinsicht hinter sich.

»Nichts bleibt« erzählt mit großer Wucht von Verlust und Rache in fast schon archaischen Dimensionen. Willi Achten gelingt dies, ohne auf viel Blut oder Action zurückgreifen zu müssen. Sprachlich sehr präzise und mit intensiven Bildern versehen, ist auch dieser Roman kein Krimi nach vorhersehbarem Muster, sondern das Psychogramm eines Mannes, der zu lange in den Abgrund der Gewalt gesehen hat, um sich davon befreien zu können.

Zwischen Angst und Aufbruch

»Miss Terry« heißt eigentlich Nita Tehri und ist ein unbescholtene Grundschullehrerin Anfang zwanzig. Als in einem Müllcontainer in der Nähe ihrer Wohnung die Leiche eines dunkelhäutigen Babys gefunden wird, scheint es für die Polizei und einen Großteil der Nachbarn klar zu sein: Nita muss die Mutter sein, schließlich ist sie die einzige mit dunkler Hautfarbe in der Straße, und hat sie nicht in den letzten Monaten deutlich abgenommen? Das wohlgeordnete Leben der jungen Frau gerät vollkommen aus den Fugen.

Liza Cody erzählt in ihrem Roman »Miss Terry« von bewusstem und unbewusstem Rassismus, von Hass, Sexismus und Diffamierung, aber auch von Freundschaft und Mut. Leise, unaufdringlich und mit herrlich untergründigem Humor schildert sie gleichzeitig einen Aufbruch und eine Befreiung aus der Angst, denn wie Nita Tehri feststellen muss: »Wenn man nicht wegrennt, jagen sie einen auch nicht.« Kein einfacher Weg, aber ein notwendiger, der ein Umdenken erfordert. Ein kleiner, wirklich großer Kriminalroman jenseits ausgetretener Pfade.

Kirsten Reimers

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Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Europa Verlag 2017
Broschur, 343 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-95890-055-4
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Willi Achten: Nichts bleibt
Pendragon 2017
kart., 374 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86532-568-6
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Liza Cody: Miss Terry
(Miss Terry, 2012)
Aus dem Englischen von Grundmann & Laudan
Ariadne/Argument 2016
geb., 286 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86754-219-7
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Mobbing, Paranoia und Mord

Mit »Gefrorener Schrei« legt Tana French ihren sechsten Krimi um die Mordkommission in Dublin vor. Wie schon zuvor steht auch diesmal jemand von den Ermittlern im Mittelpunkt, der beziehungsweise die schon in einem der vorherigen Bände eine Nebenrolle spielte: Detective Antoinette Conway. Und wie zuvor ist die Perspektive strikt die der Hauptperson: der Leser sieht das Geschehen ausschließlich durch ihre Augen und ist stets auf dem gleichen Stand wie sie.

Trotz ihres zauberhaften Namens ist Antoinette Conway alles andere als eine zauberhafte Person: Sie ist bissig, streitsüchtig, misstrauisch und kommt nur schwer zurecht mit ihren Kollegen, die sie mobben: Jemand hat in ihren Spint gepinkelt, Unterlagen verschwinden, Informationen werden ihr vorenthalten. Lediglich ihrem Partner Stephen Moran scheint sie trauen zu können. Weil sie und Moran die jüngsten im Dezernat sind – oder vielleicht auch weil ihr Vorgesetzter sie aus der Abteilung drängen möchte –, müssen die beiden Detectives die Nachtschichten und die langweiligen Fälle übernehmen.

So offenbar auch diesmal: Eine junge Frau wird tot in ihrem Apartment aufgefunden, vermutlich eine Beziehungstat. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch bald zeigen sich unter der glatten Oberfläche Risse und der Fall beginnt andere Dimensionen anzunehmen.

Tana French nimmt sich in ihrem Kriminalromanen viel Zeit, den Figuren näher zu kommen. Action, weitere Leichen oder viel Blut sucht man hier vergeblich. Stattdessen entwickelt sich das Geschehen in langen intensiven Verhörszenen, in denen die Oberfläche nach und nach abgetragen wird, bis erste Risse auftreten, durch die die tatsächlichen Hintergründe sickern. Dabei unterläuft French gekonnt allfällige Konventionen. Das ist hochspannend, intelligent und sensibel gemacht mit gutem Gespür für Stimmungen und Nuancen.

Winter is coming

Durch puren Zufall ist Isaac Sidel, der Bürgermeister-Sheriff von New York mit der Glock im Hosenbund, Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Per Dekrete hat er in der Anfangszeit versucht, die Armut abzuschaffen. Das hat ihn in die Isolation getrieben: Seine Stabschefin führt nun die Geschäfte, Sidel selbst ist so unbeliebt bei seiner Partei (den Demokraten), den Wählern, den Lobbyisten, den Wirtschaftsbossen und Verbrechern, dass eine internationale Prämie um seinen Tod ausgesetzt wurde.

»Winterwarnung«, Jerome Charyns zwölfter Band um den Law-and-Order-Mann aus der Lower East Side, den man auch ohne Kenntnisse der vorherigen Bände lesen kann, ist mit seinem absonderlichen US-Präsidenten brandaktuell, obwohl schon 2015 geschrieben und 1989 spielend. Zu jener Zeit beginnt es durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika hinter dem Eisernen Vorhang zu brodeln. Mit Devisenfälschungen versuchen Sauber- und Unsaubermänner wie -frauen verschiedene Staaten zu stärken oder zu destabilisieren. Eine besondere Rolle spielt deshalb ein geheimnisvoller Meisterfälscher, dessen Macht und Imperium langsam auseinanderbrechen. Es ist das Ende der Ideologien und der Aufstieg des Raubtierkapitalismus. Und mittendrin der pingpongspielende US-Präsident, der »Spinoza mit Haarausfall«, der »Großmeister des Chaos«.

Abgedreht, surreal-halluzinatorisch und sprunghaft, aber gleichzeitig von glasklarer und bezwingender Logik, gesättigt mit zahllosen politischen, literarischen und filmischen Anspielungen wildert sich Jerome Charyn quer durch die US-amerikanische und deutsch-polnisch-russische Geschichte, schickt seine Hauptfigur von Camp David bis nach Theresienstadt und lässt sie auf den Spuren Kafkas beziehungsweise auf denen von Kafkas Schwester wandeln, der Roman selbst ist konsequenterweise angemessen kafkaesk. Ein sehr spezielles, auf eigene Art wunderbares Lesevergnügen mit eigenwilligem Humor.

Mord, Erpressung und absurde Diskussionen

Als »Roman mit Mörder« bezeichnet der Steidl Verlag elegant den Roman »Bogmail« von Patrick McGinley und trifft damit ins Schwarze. »Krimi« wäre zu schlicht für diesen schönen Roman, einfach »Roman« wäre zu wenig. Denn es gibt einen Mord, der mühsam vertuscht wird, eine danach einsetzende Erpressung und eine Ermittlung; diese Geschehnisse treiben die Handlung durchaus voran, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn eigentlich steht etwas anders im Mittelpunkt: die Sinn- und Sexkrisen alternder Männer.

Das klingt jetzt erst mal nicht besonders verlockend. Denn warum sollte man einen Roman lesen, der sich mit Männerproblemen in einer Männerwelt rumschlägt. Aber Patrick McGinley schreibt so charmant verschroben, dabei so barock und wortgewaltig, dass man gern in diese Welt aus absurden Diskussionen und seltsamen Leidenschaften folgt.

Zentrum ist Tim Roartys ländlicher Pub in der irischen Grafschaft Donegal, eine verräucherte Höhle, an dessen Tresen »ohne den Vorzug wissenschaftlicher Kenntnisse«, wie McGinley schreibt, über das Leben, Fischfang und Tierzucht herzerwärmend obszön diskutiert wird. 1978 in England erstmals erschienen, galt der Roman als pornografisch und beleidigend gegenüber der irischen Landbevölkerung; aus heutiger Sicht hingegen ist er warmherzig mit schrägem Humor, ein bisschen tragisch und wundervoll verplaudert.

Kirsten Reimers

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Tana French: Gefrorener Schrei
(The Trespasser, 2016)
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Scherz 2016
kart., 653 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-651-02447-2
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Jerome Charyn: Winterwarnung
(Winter Warning, 2016)
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Schulz
Diaphanes 2017
geb., 327 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-03734-648-8
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Patrick McGinley: Bogmail. Roman mit Mörder
(Bogmail, 1978)
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl 2016
geb., 336 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-95829-208-6
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Dunkle Zeiten

Auf regennasser Straße gerät Michel Descombe bei einem Überholmanöver von der Straße ab und stirbt an den Folgen. Ein Unfall aufgrund von Alkohol und überhöhter Geschwindigkeit? Lieutenant Ohayon ist nicht davon überzeugt und hakt im Freundeskreis des Opfers nach. Je mehr Fragen er stellt, umso verwobener und dunkler wird der Fall, umso unklarer die Beziehungen der Freunde untereinander und die Frage, was Schuld bedeutet.

»Der Unfall in der Rue Bisson« ist der vierte Kriminalroman von Matthias Wittekindt um den Lieutenant und sein Team, angesiedelt in einer Kleinstadt kurz hinter der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland, der in der Edition Nautilus erscheint. Angenehm unaufgeregt fragt der Kriminalroman nach Freundschaft und Vertrauen, nach Schuld und Verantwortung aus verschiedenen Blickwinkeln und belässt es nicht bei simplifizierenden Antworten.

Wittekindt nähert sich seinen facettenreichen Figuren mit klugem und klarem, aber nie kaltherzigem Blick und baut Spannung aus einer subtilen Ungewissheit und Verunsicherung heraus auf. Ein wunderbar literarischer Krimi, atmosphärisch dicht, der dank seiner präzisen Sprache und seines behutsamen Herangehens auf jegliche Aufbauschung verzichten kann.

Zwischen Gier und Sehnsucht

Georgia, 1917: Nach dem Tod des Vaters beschließen die drei Brüder Cane, Cob und Chimney Jewett der bitteren Armut zu entfliehen, in der sie bisher gelebt haben. Sie kehren der Idee der himmlischen Tafel, die der naive Glaube ihres Vaters ihnen für harte Arbeit und Entbehrungen auf Erden in Aussicht gestellt hat, den Rücken. Statt- dessen folgen sie der einzigen ihnen bekannten Alternative zur Bibel: Überfälle und Plündereien nach dem Beispiel »Bloody Bill Buckets«, dem zwielichtigen Helden eines Groschenromans.

Donald Ray Pollocks aktueller Roman »Die himmlische Tafel« spielt um die Zeit des Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg. Gleichzeitig wirkt er jedoch wie in fernen Zeiten angesiedelt: Moderne und Rückständigkeit liegen nahezu unverbunden nebeneinander. Die zahlreichen bizarren Menschen, die diesen Roman bevölkern, scheinen nur bedingt von der Zivilisation des frühen 20. Jahrhunderts angesteckt: Triebhaft gieren sie danach, ihren Hunger nach Alkohol, Sex, Geld, Blut zu stillen.

»Die himmlische Tafel« ist kein typischer Kriminalroman, sondern fällt eher unter die Bezeichnung Country Noir. Übervoll mit drastischen Schilderungen, braucht es an manchen Stellen einen guten Magen, um die beschworenen Bilder zu überstehen. Knietief watet man allerlei Körperausscheidungen. Und wenn man schon denkt, man hat verstanden, worum es geht und wie es läuft, nämlich dass alle Menschen verloren und verkommen sind, dass es keinen Ausweg aus Gier, Geilheit und Suff gibt, dann schimmert Sehnsucht und Zartheit auf hinter dem Gestank. Und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein großer, guter Roman.

Lügen und Geheimnisse

Johannisburg, 1953. Die Verschärfung der Segregationsgesetze nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist im Alltagsleben in Südafrika deutlich zu spüren. Zwischen den Fronten steht Detective Sergeant Emmanuel Cooper, der heimlich eine Schwarze liebt und mit ihr ein Kind hat. Um seine Familie zu schützen, bestimmen Lügen und Misstrauen sein Leben. Keine gute Voraus- setzung für den Polizisten, der sich erst neu nach Johannesburg hat versetzen lassen. Besonders Lieutenant Walter Mason, ein ehemaliger Mitarbeiter der Geheimpolizei, scheint ihn sehr genau im Blick zu behalten.

In dieser schwierigen und aufgeheizten Situation wird ein weißes Ehepaar in seinem Haus überfallen und brutal zusammengeschlagen. Verdächtig ist der Sohn eines sehr guten Freundes und Kollegen von Emmanuel Cooper, was dieser jedoch nicht glauben kann. Er vermutet, dass der Junge als Sündenbock herhalten soll. Aber für wen?

Es ist eine finstere Zeit für Südafrika. Die Apartheid heizt das Leben mit Rassismus und Gewalt auf und bereitet so einen fruchtbaren Boden für Korruption, Hass und Mord. Malla Nunn schreibt in »Zeit der Finsternis« kraftvoll und klug über ein gesellschaftliches Klima, das vergiftet ist von Verachtung, Bigotterie, Angst und permanentem Misstrauen. Aber sie schildert auch die kleinen Momente von Glück und Freundschaft jenseits von Rassen- und Gesellschaftsschranken.

Kirsten Reimers

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Matthias Wittekindt: Der Unfall in der Rue Bisson
Edition Nautilus 2016
kart., 224 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-96054-018-2
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Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel
(The Heavenly Table, 2016)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2016
geb., 429 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-95438-065-7
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Malla Nunn: Zeit der Finsternis
(Present Darkness, 2014)
Aus dem Englischen von Laudan & Szelinski
kart., 301 Seiten, 13 Euro
ISBN 978-3-86754-217-3
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